Krank dank Schule? oder Gesund trotz Schule?

Rebekka Emersleben

Laut Pressemitteilung Nr. N042 vom 13. Juli 2023 des Statistischen Bundesamts waren „psychische Erkrankungen […] 2021 die häufigste Ursache für Krankenhausbehandlungen von 10- bis 17-Jährigen.“ Die Anzahl der Erkrankten steige seit Jahren stetig. Bei den Erwachsenen sieht es nicht besser aus: Beispielsweise „zählte die AOK 2022 durchschnittlich 159,8 Arbeitsunfähigkeitstage je 1000 Mitglieder aufgrund einer Burn-out-Diagnose [Erschöpfungsdepression].“ Das burn-out-bedingte Arbeitsunfähigkeitsvolumen sei im letzten Jahrzehnt um mehr als 50% angestiegen. (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/239869/umfrage/arbeitsunfaehigkeitstage-aufgrund-von-burn-out-erkrankungen/).

Ganz klar: Gründe für die Genese psychischer Erkrankungen, wie die depressive Episode, sind immer multifaktoriell. Sie entstehen in einem Spannungsfeld von Risikofaktoren (biologisch, sozial, ökologisch) und protektiven Faktoren (biologisch, sozial, ökologisch).

Die Schuld kann natürlich nicht allein dem maroden deutschen Schulsystem in die Schuhe geschoben werden.

Dennoch frage ich mich, inwiefern Schule mitverantwortlich ist an der Entwicklung psychischer Erkrankungen wie Depression/Burn-out, Sucht, Angst- und Essstörungen.

Meine These: Die Regelschule, so wie sie die meisten von uns kennen, ist zu einem Risikofaktor geworden. Ein Risikofaktor, der krank machen kann, aber nicht muss.

Ob wir, (Bildungspersonal und SchülerInnen) den Risikofaktor Schule abpuffern können und gesund bleiben, hängt vor allem von den individuellen Schutzfaktoren ab, die uns gegeben oder die wir erworben haben.

Zu den individuellen Schutzfaktoren zähle ich u.a.:

  • stabile, verlässliche soziale Kontakte und Bindungspersonen
  • ausreichende materielle Sicherheit
  • Sichere Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit, die unsere Selbstregulationsfähigkeit maßgeblich prägen
  • Tragende Werte/Überzeugungen/Sinn
  • Gesundes Wohnumfeld
  • gesellschaftliche Zugehörigkeit
  • Selbstwirksamkeit

Resilienz ist nicht primär angeboren, sondern entsteht vielmehr aus der Summe der Schutzfaktoren, die uns zuteil geworden sind. Sie ist mehr ein Privileg, als eine Fähigkeit, auf die man stolz sein kann, sondern demütig machen sollte.

Resilienz ist also davon abhängig, ob und wieviele protektive Faktoren wir aktuell in unserem Leben vorfinden und uns helfen, gesund zu bleiben. In unserer Gesellschaft leben viele Menschen in prekären Wohnsituationen, haben traumatische Erfahrungen gemacht, hatten nicht das Glück, sicher gebunden aufwachsen zu können, hatten selbst psychisch belastete Eltern, leben in Armut,…

Wenn Schule auch noch zum Risikofaktor wird, also nicht hilft, Risikofaktoren auszugleichen, dann wundert es mich nicht, dass immer mehr Menschen in und wegen Schule erkranken.

Ich nenne Schule einen Risikofaktor, weil:

  • es häufig wenig wertschätzende und zugewandte Bezugspersonen gibt
  • es ständigen Bewertungsdruck gibt
  • wenig Selbstwirksamkeit erlebt wird
  • es wenig echte Pausen, Erholungsphasen und Rückzugsräume gibt
  • Sinnhaftigkeit verloren geht
  • Überforderung häufig auf der Tagesordnung steht
  • zu wenig auf individuelle Bedürfnisse eingegangen wird
  • Neurodivergenzen missachtet werden
  • Angst ein sehr häufiger Begleiter ist
  • Nervensysteme ständig am Limit sind
  • keine Co-Regulation stattfindet

Schule sollte nicht Risiko-, sondern SCHUTZFAKTOR sein, der individuelle und unverschuldete Defizite, Einschränkungen und Benachteiligungen ausgleicht.

Meine Vision: Schule ist salutogener Lebensraum, Entfaltungsort für Potenziale und Leidenschaften, nährender Ort der Begegnung und Beziehung - ein SAFE PLACE.